Text: Bettina Stemmler
„Der Hund will jetzt einfach nicht tun, was er sollte! Er weiss ganz genau, was das Wort „hier“ bedeutet, er ist einfach frech“ oder „Das Kind ist sowas von respektlos und unartig, es macht das ganz absichtlich und bewusst, um mich zu provozieren“ oder „mein Mann hört mir einfach nicht zu, der will mir einfach keine Aufmerksamkeit schenken“.
Haben Sie auch schon solche oder ähnliche Aussagen gehört? Was ist der gemeinsame Nenner? Die Ansicht, dass ein Individuum, egal ob erwachsener Mensch, Kind oder Hund, sich bewusst für ein Verhalten entscheidet und auch anders hätte handeln können. Eigentlich die Annahme, dass es einen freien Willen gibt, sich sowohl für das eine, wie auch das andere zu entscheiden. In der Folge verortet man die Ursache für ein unerwünschtes Verhalten intern im Gegenüber, also wird man wütend und wird mit gar Sanktionen in Betracht ziehen – „damit er sich nächstes Mal anders entscheidet“.
Haben Sie sich schon mal überlegt, wie zielführend und berechtigt dieses Vorgehen ist? Was sagen Wissenschaft und Philosophie zur Frage des freien Willens und daraus folgernd der Frage, ob wir auch anders hätten handeln können, als wir de facto gehandelt haben.
Was will der Hund?? Kann er was anderes wollen in dieser Situation, als sich für das Wild interessieren, bzw. mit dem Menschen zu kooperieren?
Achtung – dieser Text geht über übliche Hundetrainingsthemen hinaus – aber ist trotzdem relevant für das zugrundeliegende Verständnis von kognitiven und emotionalen Prozessen wie auch dem daraus folgendem Verhalten.
Warum entscheiden wir uns so wie wir es tun, warum verhalten wir uns so, wie wir uns verhalten (egal ob Mensch oder Tier). Es gibt mit grösster Wahrscheinlichkeit keine ursachenfreien Prozesse in der Natur und somit haben unsere Denkvorgänge und Verhaltensweisen auch ihre Ursachen. Diese Ursachen sind komplex, oft nicht bewusst und facettenreich. Es beginnt mit dem zufälligen Zusammenmischen von Genen bei der Zeugung, den Lebensumständen der Mutter während der Schwangerschaft (war sie Stress ausgesetzt? Auf der Flucht? Hat sie geraucht oder getrunken? Kam sie in Kontakt mit Umweltgiften?). Nach der Schwangerschaft folgt die Geburt, der Zeitpunkt, die Lage vom Baby, ob es genug Sauerstoff bei der Geburt erwischt hat usw. Danach wenn das Kind auf der Welt ist, haben die Umweltfaktoren erst recht einen starken Einfluss auf die Entwicklung von Hirn und Verhalten. Erlebt das Kind Unterstützung, Förderung und Liebe oder an Erfolg gekoppelte Zuneigung, Vernachlässigung, Kontrollverlust, gar Gewalt? Welche genetischen Rahmenbedingungen sind vorhanden zur Bewältigung von Stress? Was macht das Kind für Erfahrungen im Umgang mit anderen Kindern und Erwachsenen? Was lernt das Gehirn des Kindes als sekundäre Verstärker zu empfinden, was findet es also toll zum Erleben, was motiviert es?
Man kann diese Liste noch bis zum geht nicht mehr ergänzen. Es zeigt, dass wir der Mensch sind, der wir sind, weil wir notwendigerweise so sind. Der Philosoph Michael Schmidt-Salomon, dessen neues Buch „Entspannt Euch“ sehr zu empfehlen ist (siehe auch Youtube link), sagt hierzu, dass die Erkenntnis, dass man sich daraus folgernd weder für Misserfolge schämen muss noch über Erfolge in Stolz verfallen sollte, zu einem entspannteren und humorvollerem Selbst führt, und man dadurch eher der Mensch werden kann, der man sein könnte.
Ein passendes Zitat des Philosophen Schopenhauer:
„Der Mensch kann zwar tun, was er will, aber nicht wollen, was er will.“
Dies bedeutet, dass es einen Unterschied gibt zwischen Handlungsfreiheit und Willensfreiheit.
Handlungsfreiheit bedeutet, dass man tun kann, was man will. Es gibt also nichts, was einem davon abhalten kann, dass zu tun, was man möchte. Äussere und/oder innere Zwänge können die Handlungsfreiheit einschränken. Äussere Zwänge sind z.B. eine Leine, die einen Hund von seinem Verhalten abhalten kann oder rechtliche Rahmenbedingungen, die Frauen in einigen Staaten in ihren Rechten beschränken. Innere Zwänge können z.B. körperliche Einschränkungen wie Lähmungen sein oder Phobien (man also z.B. durch Höhenangst nicht am Familienausflug in die Berge teilnehmen kann, obwohl man mit der Familie zusammen sein möchte).
Willensfreiheit hingegen würde bedeuten, dass man etwas anderes wollen kann als man will. Man merkt schon an dieser Formulierung, dass dies keinen Sinn ergibt. Ein wirklich freier Wille wäre losgekoppelt von Ursachen.
Der Strafrechtler Eduard Kohlrausch sagte:
„Ein Mensch, der unter eindeutig gegebenen äusseren und inneren Umständen genauso gut so wie anders handeln könnte, gehört nicht ins Zuchthaus, auch nicht in eine Irrenanstalt, sondern in einen Glaskasten, auf dass ihn jeder anstaune als die abnormste und unbegreiflichste Bildung, die ein Menschenauge bisher geschaut hat.“
Entspannt Euch – denn Ihr - und auch die anderen - können nichts dafür...
Freiwilligkeit ist also als Handlungsfreiheit und nicht als Willensfreiheit zu verstehen. Es bedeutet, dass keine inneren oder äusseren Zwänge einen davon abhalten,
was das bewusste Selbst möchte. Auch wenn man sich neuropsychologisch gesehen nicht zuviel einbilden sollte auf das „ich“. Denn dieses ist mit grösster Wahrscheinlichkeit eine brillante
Konstruktionsleistung unseres Gehirns, damit wir denken, wir hätten das Zepter in der Hand, obwohl das „ich“ eigentlich nur abnickt, was sowieso schon geschieht/entschieden worden ist, durch
unbewusste und hochkomplexe Prozesse vor der Bewusstwerdung. Aber auch kognitiv höherstehende, bewusste Prozesse sind nicht ursachenfrei. Ein Mensch, der in einer emotionalen Kurzschlusshandlung
gewalttätig wurde wird als weniger schuldig betrachtet, wie eine Person, welche dieselbe Tat geplant und dann ausgeführt hat. Ist das wirklich fair? Im ersten Fall ist vielleicht beispielsweise
der Frontalcortex nicht fähig die Emotionen und Impulse entsprechend zu regulieren, im zweiten Fall hat ein Mensch eine malfunktionierende Amygdala und kann deswegen weder Angst noch Mitgefühl
normal zeigen. Wessen Schuld ist es, wenn ein Mensch also kognitiv nicht in der Lage ist mit einem Veto eigene Handlungen zu unterbrechen oder ein psychopathisches Hirn aufweist? Spannend
ist die Forschung des Neurowissenschaftlers James Fallon. Hat er doch
bei seinen Untersuchungen an Hirnen von psychopathischen Straftätern und Normalbürgern entdeckt, dass sein eigenes Hirn die Funktionsweise eines Psychopathen hat. Nachforschungen zeigten, dass
bei seinen Vorfahren schwerkriminelle Menschen dabei waren und seine Familienmitglieder bestätigten, dass er gefühlskalt sei. Glücklicherweise erlebte er eine Kindheit ohne Missbrauch und Gewalt,
aber mit viel Liebe, weswegen er trotz diesen Veranlagungen nicht straffällig geworden ist. Wäre es seine Schuld gewesen, wenn es anders gelaufen wäre? Er beispielsweise massive Gewalt erlebt
hätte und danach seine angeborene Funktionsweise des Hirns sich wirklich gezeigt hätte? Wessen Verdienst ist es, wenn eine Person gut fähig ist, ihr Verhalten angemessen zu
kontrollieren?
Dass gegebene Ursachen unser Verhalten in der Vergangenheit bestimmt haben, bedeutet keineswegs, dass wir einem vorgegebenen Schicksal ausgeliefert sind und keinen
Einfluss auf unsere Zukunft hätten, sozusagen „Sklaven unserer Gene und Erfahrungen“ seien. Gerade weil wir, wie Hunde auch, ein plastisches lernfähiges Gehirn haben, können wir durch
Lernerfahrungen unser Verhalten und Motivationen verändern. Wenn wir also erkennen, wo unsere Baustellen sind, können wir daran arbeiten und Verhaltenstendenzen in Zukunft zum Besseren
verändern.
Bedeutet das, dass wir keine Verantwortung für unsere Taten übernehmen müssen und alles tun dürfen? Nein, wenn ein Mensch sich unethisch verhält, z.B. Gewalt anwendet, gehört er vor die Justiz. Jedoch nicht nach dem Schuld-Sühne-Rache Prinzip, dass darauf aufbaut, dass der Täter ja auch anders handeln hätte können, sondern mit dem Fokus auf Aufrechterhaltung der Menschenrechte, dem Schutz des Rechtsstaates, des Schutzes der anderen Menschen und Tiere und der Rehabilitation der Straftäter, deren Verhalten durch Lernerfahrungen und Therapie erfolgreich verändert werden kann.
Was bedeutet das im Umgang mit unseren Hunden? Auch sie können sich zu den gegebenen Umständen und mit den gegebenen Ursachen nicht anders verhalten, als wie sie es
tun. Sie dafür zu strafen ist somit unfair und verschlechtert die Chancen, dass es beim nächsten Mal besser läuft. Was sollten wir tun? Wir könnten Situationen erschaffen, die ähnlich sind zu
derjenigen, in welcher der Hund sich unerwünscht verhalten hat, aber weniger schwierig und dem Tier neue Lernerfahrungen generieren, so dass die Wahrscheinlichkeit steigt, dass er es in Zukunft
auch bei den ungestellten Situationen, im Alltag, schafft und so kann der Hund beim nächsten Mal durch die gewonnenen Lernerfahrungen ein erwünschtes Verhalten zeigen. Denn durch kompetentes
Training verändern wir zugrundeliegende Emotionen (z.B. Ängste) zum Besseren und stillen Bedürfnisse (z.B. need for control), so dass es das Tier eben nicht mehr nötig hat, sich unerwünscht zu
verhalten.
Natürlich kann man mittels Bestrafungen ein Verhalten abwürgen und unterdrücken. Wir können aber nicht von einem Gegenüber erwarten, dass es dadurch etwas anderes will, als das, was es will!
Denn erstens die Ansicht irrig, dass Tier habe sich mit freiem Willen dazu entschieden sich „falsch zu verhalten“ und zweitens hilft es dem Tier nicht das „Ursachengerüst“, das zu dem Verhalten geführt hat, konstruktiv zum Bessern verändern.
Es ist mir klar, dass diese philosophischen Überlegungen etwas abstrakt sind und auch nicht wie ein mathematischer Beweis gesichert sind - aber ich denke, die
Erkenntnis, dass auch, das, was wir wollen, Ursachen hat, die nicht alle in unserer Macht stehen, macht uns entspannter und hilft ein harmonischeres, empathisches Zusammenleben zu entwickeln –
und davon haben alle etwas.
© Bettina Stemmler, 29.10.2019
Bettina Stemmler, 1982 geboren, lic.phil. UZH, ist Hundetrainerin (cert. Hundeinstruktorin HIK-1 Certodog; int. Hundetrainerin nach Rugaas), Clickertrainer I und dipl. tierpsychologische Beraterin I.E.T.
Sie studierte Psychologie, Geschichte und Philosophie an der Universität Zürich und hat drei empirische
Forschungsprojekte über die Mensch-Hund-Beziehung realisiert. Sie ist die Gründer der Initiative für gewaltfreies Hundetraining (www.gewaltfreies-hundetraining.ch). Weitere Texte finden dich hier
Sie besitzt drei Scottish Terrier, die gerne Agility, Clickertraining, Nasenarbeit und vieles mehr machen. Bettina Stemmler arbeitet auch in einer Filmproduktionsfirma (www.magee.ch).
Dieser Artikel entstand im Rahmen der Blogparade "Fair statt fies", initiiert von Karin Immler, in Kooperation mit der Initiative für gewaltfreies Hundetraining
Kommentar schreiben
Peggy (Freitag, 27 März 2020 14:02)
Das hast du für mich gut rekonstruiert u nahe gebracht. Ich verstehe die Zusammenhänge nun im ganzen u bin ganz deiner Meinung. Dadurch kann man einem sogenannten Täter oder ungehorsamen Hund mit mehr Liebe begegnen. Und schon bin ich wieder bei einem liebenden Gott hi hi�